Nachdem ich die ersten drei Studienwochen in Basel erfolgreich überstanden hatte und am Weekend glücklicherweise noch nichts zu lernen hatte, war die Freude gross mit den anderen ins Appenzell fahren zu können. Das Wetter war das ganze Wochenende über vom feinsten und man fühlte sich wieder wie im August. Bernhard, Sam aus Luzern und Julian, der extra aus Deutschland angereist kam, waren bereits Nachmittags losgefahren. Ebenfalls mit dabei war Mike, der seit zwanzig Jahren regelmässig in der Gegend unterwegs ist und die Leute dort gut kennt. Er organisierte sogar einen Materialtransport bis zur Hütte, von der es nur noch eine gute Stunde bis zu den Highlines war. Um nichts für die Reise zu zahlen, fuhr ich Abends nach. Da die Zugführer im Appenzell scheinbar gerne früh schlafen gehen, musste ich die letzten paar Kilometer bis Pfannenstiel (Dorfname) mit dem Fahrrad fahren, um dann von dort aus zu Fuss weiterzulaufen. Meine Kondition ist leider aktuell etwas trainingsbedürftig, sodass ich bis um zwei Uhr nachts unterwegs war, bis ich endlich am Ziel ankam.
Nach einer gemütlichen Nacht in der Hängematte kam am nächsten Morgen überraschenderweise Chris Krr aus Berlin an meinem Schlafplatz vorbeigelaufen. Wir kannten uns nicht, aber an den der grösse unserer Rucksäcke war offensichtlich, dass wir beide das gleiche Ziel hatten. Chris war um halb sechs am Abend vorher in Berlin losgetrampt und unglaublicherweise acht (!) Stunden später mitten in den Appenzeller Bergen, und zwar genau dort wo er hinwollte. Mit dem Zug wäre das weder in der gleichen Zeit noch um diese Zeit möglich gewesen. Bernhard kommentierte die Aktion später mit: «Genau wie wir hier ganz selbstverständlich in den Zug einsteigen, steigt Chris in Berlin in irgendein Auto ein und kommt einfach ein paar Stunden später an der gleichen Stelle an, als ob nichts wäre. Das macht er immer so». Was das Trampen angeht, werde ich auf jeden Fall mal versuchen mir von der Leistung eine Scheibe abzuschneiden. Mit Chris lief ich dann nach einem kleinen Proviant-Einkauf bei sehr netten Bergbauern auch zu den anderen hoch, die schon gut beschäftigt mit dem Set-up waren und auf den markanten Felspfeilern der Dreifaltigkeit herumhantierten. Neben Pfannenstiel als Dorfnamen hiess interessanterweise der westliche Felspfeiler «Heiliger Geist». Es scheint ganz so als hätten sie im Appenzell besonderen Spass bei den Namensgebungen…
Um es kurz zu halten: Am Ende des ersten Tages stand eine 70m lange Line. Für die zweite 55m lange Line brauchten wir noch ein paar Schlingen mehr um den Turm weiter umschlingen zu können, was wir dann am nächsten Tag erledigten. Ausnahmsweise konnte ich mich mal nicht über Schlafmangel beklagen. Im Gegensatz zu den anderen hatte ich mein Gepäck bis zu den Lines hochgetragen und übernachtete oben, wofür ich je eine Stunde Ab- und Wiederaufstieg sparte und mehr Schlafen konnte (wir schliefen sowieso alle ein wenig verteilt). Nach einer glasklaren Nacht in der Hängematte unter den Sternen bekam ich morgens sogar einen Weckservice – von einem Weltrekordler höchst persönlich. Julian war als erstes aufgestanden um auf die (viel zu wenig gespannte) 70m Sonic von Landcruising zu gehen. Um die Aktion zu dokumentieren machte ich mich mit Kamera und Frühstück bewaffnet zum höchsten Punkt des Berges, von wo aus die Highline ganz schön beeindruckend aussah. Es war windig, weswegen ich von oben gemeinsam mit ein paar faszinierten Wanderern gespannt zuschaute, ob Julian es wirklich schaffen würde. Er liess sich aber nicht viel anmerken. Ein paar Minuten später war er auf der anderen Seite. Dann sah ich zufällig weiter im Tal Steinböcke. Entgegen der Prognose der Wanderer konnte ich mich nach genügend langem Anschleichen sogar ein wenig mit ihnen anfreunden und das eine oder andere Foto knipsen, da sie mich bis auf 4-5 Meter heranliessen.
Ein leider etwas unangenehmer Teil an der ganzen Aktion war übrigens das letzte Stück des Zustiegs bis zu den Türmen, welches aus ziemlich Steil abfallenden Grasshängen bestand, die wie Trichter mit einem schmalen Teil nach unten hin ins Leere abfielen. Ich wusste gar nicht, dass es Grashügel gibt, die so steil sein können. Um sich fortzubewegen musste man sich mit Händen und Füssen möglichst gut am Grass festhalten. Auszurutschen wäre so rein gesundheitlich betrachtet vermutlich nicht unbedingt günstig gewesen. Ein Beispiel dafür, dass der Zustieg meistens bei weitem gefährlicher ist als das Highlinen selbst, was ja an sich bekanntlich eine ziemlich sichere Angelegenheit ist.
Bernhard, Julian und Sam hatten unterdessen die zweite Line fertig gespannt und fingen an zu Laufen. Kurz bevor ich losmusste konnte ich auch noch schnell ein paar Versuche machen (obwohl ich nicht wirklich viel am Aufbau mitgeholfen hatte). Ich musste mich zugegebenermassen ziemlich zwingen auf die Line herauszurutschen, weil ich schon nur auf dem nach Süden hin senkrecht in die Tiefe abfallenden Turm ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte. Nach ein paar Anläufen konnte ich dann aber doch ein paar Schritte machen, womit ich mich angesichts der 55m Länge echt glücklich auf den Nachhauseweg machen konnte. (Wie immer etwas zu spät) liefen Mike und ich in Richtung Zuhause.
Etwas weiter unten im Tal bei den netten Bauern angekommen, wurden wir sogar noch bis nach Pfannenstiel gefahren. So wurde uns ein gestresster Abstieg erspart, was das Wochenende perfekt abschloss (zumindest für uns). Im Nachhinein hatte ich aber doch ein kleines bisschen Schuldgefühle als mir die anderen erzählt haben, dass für sie die ganze Aktion mit einem ziemlich anstrengenden Teil endete. Sie mussten das ganze Material zu viert in der Nacht bis nach ganz unten schleppen, was angesichts des steilen Bergwanderwegs sicherlich keine angenehme Angelegenheit war.
Als ich zwischendurch mal mit Mike über die ganze Aktion sprach, kamen wir zum Schluss, dass es beim Highlinen im Allgemeinen nicht unbedingt nur auf den eigentlichen Moment auf der Line geht, sondern viel mehr um das Ganze drum herum. An Plätze zu gehen wo nicht viele Leute vorher waren, die häufig einmalige natürliche Umgebung und vorallem die Leute mit denen man unterwegs ist machen das meiste am ganzen Erlebnis aus.
Geschrieben von Fäbu